Nicht warten, bis der Stuhl zusammenbricht

Carsten Fleckenstein

Digitalisierung und KI verändern die Arbeitswelt, doch oft scheitert der Change. Widerstände, Unsicherheiten, unklare Ziele sind die Ursachen – da muss man noch nicht mal an KI denken. Wie Steuerberatungskanzleien damit umgehen können, welche Rolle Psychologie und Führung spielen und warum Feuer unter dem Stuhl motiviert, erläutert Prof. Dr. Jutta Rump von der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft und Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen.

Porträtfoto von Jutta Rump, sie trägt einen Blazer und lächelt in die Kamera

DATEV magazin: Frau Rump, Ihre Forschungsschwerpunkte sind Trends in der Arbeitswelt und die Konsequenzen für Personalmanagement, Organisationsentwicklung und Führung. Wie erleben Sie die Veränderung aufgrund von Digitalisierung und KI?

Jutta Rump: Wir arbeiten bereits mit KI und nutzen sie als Unterstützung. Natürlich gibt es bei uns als Hochschule bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen, die wir einhalten müssen. Aber innerhalb dieser Vorgaben setzen wir KI gezielt ein. Und ich empfinde das als Erleichterung. Es schenkt uns Zeit, gibt uns Ideen und erhöht die Effizienz.

Laut HR Report 2024, an dem Sie beteiligt waren, nutzen circa die Hälfte der befragten Unternehmen digitale Prozesse und KI oder sind in der Konzeptphase. Gleichzeitig, sagen andere Studien, scheitern bis zu 80 Prozent der Digitalisierungsprojekte – und zwar an den Widerständen der Menschen. Was hindert sie?

Zum einen ist es teilweise schlicht Unwissenheit und Unsicherheit. Dann gibt es das Phänomen, dass Menschen im Privaten häufig offener für neue Technologien sind als im beruflichen Umfeld. Die gleichen Personen, die sich im Unternehmen gegen digitale Veränderungen sträuben, nutzen privat Online-Händler und personalisierte Empfehlungen, die genau auf ihr Nutzungsverhalten zugeschnitten sind.

Klingt nach Widerspruch.

Die Ursache liegt in der Selbstbestimmtheit: Privat entscheide ich, ob und wie ich eine Technologie nutze. Im Unternehmen oder einer Kanzlei werde ich mit einer Veränderung konfrontiert, auf die ich keinen direkten Einfluss habe. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich fremdbestimmt werde und vielleicht nicht mehr mithalten kann, entsteht Widerstand.

Oder weil der Mensch grundsätzlich ein Gewohnheitstier ist?

Menschen richten sich gerne in ihrer Komfortzone ein, ja, doch wenn Sie sich die Evolution anschauen, dann stellen Sie fest, dass sie immer dann besonders innovativ gewesen sind, wenn sie mit dem alten Zustand unzufrieden waren. Wenn ich jahrelang auf meinem Stuhl gesessen habe, sehe ich keinen Grund, diesen zu wechseln. Wenn mir aber gesagt wird, dass dieser Stuhl in zwei Wochen zusammenbrechen wird, dann will ich eine Alternative haben. Und wenn dann noch unter meinem alten Stuhl ein kleines Feuer entfacht wird, dann stehe ich auf. Genau hier setzt gutes Changemanagement an: Klarmachen, dass es keinen Weg zurück gibt und gleichzeitig eine sinnvolle Perspektive zeigen.

Das gilt für alle – Menschen sind aber unterschiedlich konditioniert und sozialisiert. Inwieweit unterscheiden sich Geschäftsleitung, Führungskräfte und Mitarbeiter?

Geschäftsleitung und Führungskräfte sind diejenigen, die Veränderungen initiieren und gestalten. Die Mitarbeiter sind diejenigen, die die Veränderung mittragen und umsetzen müssen – ohne dass sie darüber entschieden haben. Das ist, als würde ich ein fertiges Gericht auf den Tisch gestellt bekommen, ohne dass ich bei der Rezeptauswahl mitreden konnte. Vielleicht hätte ich andere Gewürze genommen. Also esse ich es zwar, aber nicht unbedingt begeistert.

Also nicht einfach verfügen, sondern positiv motivieren – und wie?

Wichtig ist, die Mitarbeiter in den Veränderungsprozess einzubeziehen. Natürlich entscheidet die Geschäftsleitung über die Strategie. Aber wenn es um die konkrete Umsetzung geht, sollte man die Mitarbeiter mit ihrem Erfahrungswissen einbinden. Sonst heißt es später: Warum habt ihr mich nicht gefragt? Ich hätte das anders gemacht.

Es geht also um Partizipation. Aber wechseln wir mal die Perspektive. Was ist, wenn Führungskräfte blockieren?

Das ist ein Problem. Veränderung zu initiieren und mitzutragen, ist Teil der Führungsaufgabe. Wenn diese sich weigert, erfüllt sie ihre Aufgabe nicht. Das bedeutet nicht, dass sie keine kritischen Fragen stellen darf. Eine gute Führungskraft hinterfragt, schaut auf mögliche Auswirkungen und bringt ihre Sichtweise ein. Aber wenn die Entscheidung gefallen ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder mittragen oder die Konsequenzen ziehen. Was nicht geht, ist, sich mit Mitarbeitern zu verbünden und eine Revolution von unten zu starten und durch Boykott und Verweigerung das Projekt zu torpedieren.

Bei Mitarbeitern ist es also die fehlende Partizipation. Was sind die Gründe bei Führungskräften?

Zum Beispiel fürchten sie, ihr Ansehen zu verlieren. Oder aber sie sind überfordert. Viele kommen aus einer anderen Generation. Sie sind teilweise in einer anderen, teils analogen Welt groß geworden sind, haben sich dort sozialisiert, waren dort erfolgreich.

Aber das ist doch bei Mitarbeitern ähnlich.

Ja, aber jetzt findet dieser Quantensprung statt. Was wir bisher hatten, war eine dumme Digitalisierung. Jetzt, mit der KI haben wir die vierte industrielle Revolution. Das weckt schnell den Eindruck, nicht mehr mithalten zu können und das Ansehen als Führungskraft beim Team, bei Kolleginnen und Kollegen zu verlieren. Das ist für Führungskräfte schwieriger.

Gehen wir davon aus, die Menschen ziehen mit. Was führt zum Scheitern, wenn es auch nicht die Technik ist, wie anfangs gesagt?

Häufig liegt es daran, dass vorher keine saubere Prozessanalyse gemacht wurde. Digitalisierung funktioniert nur, wenn die Prozesse vorher optimiert, standardisiert und harmonisiert wurden. Viele Unternehmen sind begeistert von Digitalisierung und KI, kaufen irgendeine tolle neue Technologie und setzen sie auf bestehende Strukturen drauf – ohne zu prüfen, ob sie sich in den bestehenden Ablauf integriert. Das funktioniert nicht.

Was wäre denn beispielhaft der richtige Weg?

Zuerst sich die Frage stellen, wie in Digitalisierung und KI investiert und was damit erreicht werden soll. Zielsetzung! Prozesse analysieren und entrümpeln – wo gibt es Standardabläufe, die effizienter gestaltet werden können, wo gibt es Engpässe und welche Prozesse sind überholt? Erst wenn das geklärt ist, kann man über die Art der Digitalisierung und KI nachdenken und die Technologie auswählen. Und natürlich nicht das gesamte Unternehmen auf einmal umstellen wollen, sondern mit einem Pilotprojekt starten. Damit testet man, ob die Veränderung funktioniert und wo nachjustiert werden muss. Ganz wichtig ist es, Meilensteine und Erfolgserlebnisse einzuplanen, und: kommunizieren. Veränderung darf nicht abstrakt bleiben. Ich kann nicht einfach sagen: „Nutzt dieses neue System, das ist besser.“ Ich muss zeigen, wo es besser ist, Zeit spart, Fehler reduziert, Abläufe erleichtert. Ein Mitarbeiter, der vorher einen ganzen Tag für eine Aufgabe gebraucht hat und nach der Umstellung nur noch eine halbe Stunde, erlebt einen klaren Vorteil. Das ist ein Glücksmoment und den muss man kreieren. So motivieren Sie. Am Ende, nach erfolgreicher Testphase kann man dann in Gänze ausrollen.

Das bedarf einer Menge Zeit und personeller Ressourcen. Kanzleien haben beides oft nicht.

Dann brauche ich Hilfe von außen, eine Institution im Hintergrund, die mir vorschlägt, was ich machen kann und mir gleichzeitig die Prozesse richtig definiert. Ich brauche auch den Kollegen Algorithmus, eine KI, die mir hilft, die Standardprozesse abzuarbeiten, damit ich wieder Zeit habe für die Prozesse, die Individualität erforderlich machen.

Und wenn es beim ersten Mal nicht funktioniert mit der Veränderung?

Da muss man sich mal tief in die Augen schauen und gucken, warum das gecrasht ist. Natürlich bedeutet eine Umstellung oft, dass es erst einmal ein bisschen holprig wird, bevor es gut läuft. Also analysieren, woran es lag. Gab es Fehler in der Planung? War die Technik ungeeignet? Wurde das Ziel nicht klar genug kommuniziert? Haben wir unsere Mitarbeiter nicht einbezogen? Fehler sind nicht schlimm, solange man daraus lernt. Eine ehrliche Bestandsaufnahme ist entscheidend. Und dann mache ich es im zweiten Anlauf besser. Aber erneut loslaufen, ohne eine derartige Reflexion und Evaluation, wird auch beim zweiten Mal scheitern.

Bisher hatte ein Change ein definitives Ende, zumindest gefühlt. Jetzt kristallisiert sich immer stärker heraus, dass sich durch Digitalisierung und KI eine zunehmende Dynamik entwickelt, die kein Ende mehr hat. Muss Changemanagement neu gedacht werden?

Ja, es entwickelt sich zu einem immerwährenden Prozess. Technologien entwickeln sich schneller weiter, es gibt häufiger Updates, ständig neue Lösungen. Wichtig ist, dass man diese Veränderungen in eine durchdachte, stabile Struktur einbettet. Wer Veränderung aktiv gestaltet, gewinnt Effizienz und Sicherheit. Wer wartet, bis der Stuhl zusammenbricht, der verliert.

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