Die Geschichte von DATEV in den ostdeutschen Bundesländern zeigt, was möglich ist, wenn Wissen auf Vertrauen trifft – und aus Improvisation Zukunft wird.
Berlin, 1991. Mein erster Arbeitstag bei der Treuhandanstalt – direkt von der Uni hinein in einen historischen Umbruch. Ich saß in einem Büro am Potsdamer Platz und war Teil eines Prozesses, der Hunderttausende Arbeitsplätze und Lebensläufe veränderte. Was blieb, sind Eindrücke von atemberaubendem Tempo, allgegenwärtiger Unsicherheit – und einer Verantwortung, die auch junge Berufseinsteiger trugen. Ich erinnere mich an eine junge Mutter, die nach dem Mutterschutz vor verschlossenen Werkstoren stand: Die Firma war abgewickelt. Wir versuchten zu helfen – mit Empathie statt Paragrafen. Diese Erfahrung hat mein Verständnis von Wandel geprägt – nicht theoretisch, sondern ganz praktisch.
Zwischen Klappstuhl und Kompetenz
Mit der Wiedervereinigung begann der Aufbau eines Berufsstands von Grund auf. In der DDR gab es keine Steuerberater, sondern „Helfer in Steuersachen“. Für die Marktwirtschaft war klar: Ein starker Mittelstand braucht Beratung. Schon im Sommer 1990 startete DATEV mit der „Zeltreise“ – einem mobilen Konferenzzentrum, das in acht Städten haltmachte. Unter dem Motto „Was Sie jetzt brauchen, sind konkrete Informationen“ boten wir zweitägige Seminare zu Umsatzsteuer, Lohnabrechnung, EDV und Rechnungswesen an – in Berlin kamen über 1.500 Besucher pro Tag. Nicht alles lief glatt: improvisierte Unterkünfte, Buchungssätze im Flur. Aber das Feedback war eindeutig: endlich echte Beratung.
Was 1990 in den ostdeutschen Bundesländern bei null begann, wuchs rasant: Anfang 1991 zählte DATEV dort 300 Mitglieder, betreute 8.000 Mandate und fertigte 80.000 Lohnabrechnungen. Die Nachfrage stieg so schnell, dass neben Dresden und Schwerin weitere Informationszentren in Magdeburg, Leipzig und Erfurt entstanden. Berlin war sogar schon vor dem Mauerfall ein DATEV-Brückenkopf.
Heute, 35 Jahre später, ist der Berufsstand im Osten etabliert. Viele Kanzleien sind digital führend, beraten spezialisierte Mandate und geben als feste Größe wirtschaftliche Orientierung in ihrer Region. Diese Aufbauleistung verdient Anerkennung – nicht als Nostalgie, sondern als Ermutigung.
Partner und Brückenbauer
Nicht zu vergessen: Auch viele westdeutsche Kanzleien haben den Aufbau Ost mitgestaltet – als Partner, Brückenbauer, Wissensträger. Viele Niederlassungen entwickelten sich zu eigenständigen Kanzleien. Andere Kolleginnen und Kollegen fanden in den ostdeutschen Bundesländern ihre neue unternehmerische Heimat.
Wenn wir heute vor der nächsten Transformation stehen – Stichworte E-Rechnung, KI, Fachkräftemangel –, lohnt sich der Blick zurück. Denn eines bleibt: Wir brauchen Wissen, Vertrauen – und den Mut, gemeinsam zu handeln. Die Geschichte des Berufsstands in Ostdeutschland zeigt eindrucksvoll: Es geht nicht darum, Veränderungen auszusitzen – sondern darum, sie anzupacken. Damals wie heute sind es nicht die Systeme, sondern die Menschen, die Wandel möglich machen. Mit Engagement, Empathie und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Gerade in Zeiten beschleunigter Digitalisierung, politischer Unsicherheit und wachsenden Fachkräftemangels ist es umso wichtiger, diese Haltung zu bewahren – und weiterzugeben. Denn was 1990 mit Improvisation begann, wurde zu einer echten Erfolgsgeschichte. Sie erinnert uns daran, dass jeder Umbruch auch eine Chance zum Aufbruch ist. Und dass Zukunft kein Zustand ist – sondern eine gemeinsame Entscheidung.
Der Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und promovierte Diplom-Kaufmann Robert Mayr ist seit 2016 CEO der DATEV eG. Mayr ist zudem seit 2012 Vizepräsident der Steuerberaterkammer Nürnberg. Er ist Senator in der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Rechnungsprüfer des Bundesverbands der Deutschen Industrie e.V. (BDI) und im Hauptvorstand des Bitkom e.V. Mayr engagiert sich ehrenamtlich in der Hochschullehre, er hat einen Lehrauftrag an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, wo er neue Technologien im Steuerwesen untersucht. Für dieses Engagement ist ihm im Sommer 2022 der Titel „Honorarprofessor“ verliehen worden.