Als Joachim Gauck auf dem DATEV-Kongress 2025 spricht, ist sofort spürbar: Hier redet kein ehemaliger Staatsmann, der sich in die Rolle des Zeitzeugen zurückgezogen hat. Im Gegenteil: Hier spricht ein Mahner und Mutmacher, der seine Lebenserfahrung in den Dienst der Gegenwart stellt. Seine Botschaften – von Freiheit, Verantwortung und Demokratie – passen nicht nur in die Kulisse eines Kongresses, der die Zukunft der Beratung in den Blick nimmt. Sie wirken vielmehr wie ein Kompass in einer Zeit, in der das Fundament des Gemeinwesens brüchig zu werden scheint. Und sie verdienen es, über den Moment hinaus ernst genommen zu werden, denn Freiheit ist kein Geschenk.
Immer wieder betont Gauck: Freiheit ist nicht selbstverständlich. Sie ist nicht einfach vorhanden, wie Luft oder Licht, sondern muss errungen, verteidigt und gestaltet werden. Dieser Gedanke wirkt beinahe banal – bis man sich vergegenwärtigt, dass ganze Generationen in Deutschland die Erfahrung gemacht haben, wie schnell Freiheit verloren gehen kann. Gauck, der den größten Teil seines Lebens in der DDR verbrachte, weiß sehr genau um den Unterschied. Sein Appell: Wir dürfen uns nicht in der Sicherheit einrichten, sondern müssen bereit sein, Risiken auf uns zu nehmen, wenn Freiheit in Gefahr gerät. Opfer, auch materielle, seien dann gerechtfertigt. Die viel diskutierte Formel „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit“ aus dem Jahr 2022 hat in ihrer Schlichtheit eine unbequeme Wahrheit berührt. Doch Freiheit, so Gauck, bleibt leer, wenn sie nicht mit Verantwortung gefüllt wird. „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung“, lautet einer seiner Kernsätze. Es ist ein protestantisch geprägter Gedanke: Freiheit bedeutet nicht nur Unabhängigkeit, sondern auch Rechenschaft – vor dem eigenen Gewissen und vor der Gemeinschaft.
In einer Gesellschaft, die immer wieder zwischen Individualismus und Solidarität schwankt, erinnert Gauck daran, dass beides zusammengehört. Für freie Berufe wie die Steuer- oder Rechtsberatung ist dies unmittelbar nachvollziehbar: Autonomie in der Beratung verlangt den gleichzeitigen Willen, Verantwortung für Mandanten, Recht und Gesellschaft zu übernehmen.
Gauck beschreibt Demokratie gern als „anstrengend“. Sie verlangt Beteiligung, Streit, das Aushalten von Differenzen. Bequem ist das nicht. Aber genau darin liegt ihr Wert: Fehler können korrigiert, Mehrheiten verändert, Wege neu beschritten werden. Populistische Verlockungen versprechen Einfachheit. Gauck hingegen wirbt für die Zumutung der Komplexität. Gerade in einer Zeit, in der politische Lager verhärten und soziale Medien die Empörung beschleunigen, ist sein Ruf nach einer „kämpferischen Toleranz“ aktueller denn je. Tolerant sein gegenüber anderen Meinungen, solange sie im demokratischen Spektrum bleiben. Intolerant sein gegenüber jenen, die die Demokratie selbst zerstören wollen. Diese Differenzierung mag unbequem sein, aber sie ist essenziell für eine offene Gesellschaft.
Streit als notwendiges Korrektiv
Gaucks Überzeugung, den Dialog mit Andersdenkenden suchen zu müssen, ohne die Feinde der Demokratie zu verharmlosen, eröffnet eine Haltung, die auch für Organisationen wie DATEV bedeutsam ist: Die Vielfalt der Stimmen aushalten, aber klare Grenzen ziehen, wenn Grundwerte angegriffen werden. Streit ist in diesem Verständnis kein Störfall, sondern ein notwendiges Korrektiv – auch in einer Gemeinschaft von Experten, die gemeinsam Lösungen entwickeln.
Wer Gauck zuhört, bemerkt schnell: Die Vergangenheit ist für ihn kein abgeschlossener Raum. Sie ist Gegenwart und Zukunft zugleich. Er spricht vom „tiefen Fall“ Deutschlands in Diktatur und Krieg, aber auch vom „Wunder“ des demokratischen Aufbruchs jeweils nach den Jahren 1945 und 1989. Erinnerung sei nicht Last, sondern Kraftquelle – solange sie ehrlich und ungeschönt betrieben werde. Darin liegt für Gauck der Schlüssel, um die Würde des Menschen dauerhaft zu sichern. Das Vergessen mache anfällig für Verführungen. Es ist ein Gedanke, der weit über historische Gedenktage hinausweist: Auch in Wirtschaft und Politik gilt, dass Glaubwürdigkeit nur aus Ehrlichkeit erwächst.
Gerade für eine berufsständische Genossenschaft wie DATEV lässt sich daraus eine klare Schlussfolgerung ziehen: Ohne gelebte Erinnerung an die eigenen Grundlagen – die Solidarität, das Vertrauen, die Gemeinwohlorientierung – lässt sich ein Phänomen wie der digitale Wandel nicht verantwortungsvoll gestalten. Nur wer aus der Vergangenheit lernt, kann Zukunft gestalten.
Als erster Bundespräsident mit einer ostdeutschen Vergangenheit spricht Gauck mit einer solchen Authentizität über Mentalitätsunterschiede, die kaum jemand sonst besitzt. Er benennt offen die Schwierigkeiten mancher Ostdeutscher, sich mit der Freiheit anzufreunden, verweist aber zugleich darauf, dass die friedliche Revolution des Jahres 1989 ein ostdeutsches Freiheitswerk war. Damit macht er deutlich: Auch wenn Prägungen unterschiedlich sind, trägt jeder Verantwortung für die Zukunft. Der Hinweis, dass Demokratie immer auch eine Lernaufgabe bleibt, ist von universeller Gültigkeit – im Osten ebenso wie im Westen.
Dieses Plädoyer für gegenseitiges Verständnis erinnert daran, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt immer wieder neu gestiftet werden muss. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie wichtig es ist, Brücken zwischen unterschiedlichen Perspektiven zu schlagen – eine Haltung, die DATEV als Plattform für vielfältige Mitglieder tagtäglich praktiziert.
Mutmacher in unruhigen Zeiten
Vielleicht ist dies der rote Faden seiner Reden: Angst überwinden. Gauck kennt die lähmende Wirkung der Angst aus eigenem Erleben. Er weiß aber auch, wie befreiend es sein kann, ihr die Stirn zu bieten. „Es ist unglaublich, was Menschen vermögen, wenn sie aus dem Diktat ihrer Ängste heraustreten“, sagt er. Das ist nicht nur ein politischer Appell, sondern ein existenzieller. Und einer, der in eine Gesellschaft passt, die zwischen Klimakrise, Krieg und Digitalisierung oft vom Gefühl der Überforderung ergriffen wird.
Gerade hier entfaltet seine Botschaft eine besondere Kraft: Sie lädt ein, sich nicht von der Schwere der Probleme lähmen zu lassen, sondern in der Verantwortung für andere zu handeln. Ob in der Politik, in der Wirtschaft oder in der Beratung: Fortschritt braucht Mut, und dieser erwächst aus der Überwindung von Angst.
Joachim Gauck ist kein aktiver Politiker mehr, aber er ist ein öffentlicher Intellektueller geblieben. Seine Worte sind mehr als wohlfeile Mahnungen: Sie fordern heraus, sie stellen uns vor unbequeme Fragen. Wie viel sind wir bereit, für unsere Freiheit zu riskieren? Wie ernst nehmen wir unsere Verantwortung für andere? Und wie wehrhaft sind wir, wenn die Demokratie angegriffen wird?
Die Antworten darauf betreffen nicht nur die Politik, sondern auch das Wirtschaftsleben, die Berufe, die Zivilgesellschaft. Freiheit, Verantwortung, Erinnerung – das sind keine fernen Ideale, sondern sich tägliche stellende Aufgaben.
Joachim Gauck erinnert uns daran, dass diese Aufgaben nicht von gestern sind. Sie sind von heute, und sie bleiben es, solange Menschen frei und verantwortlich leben wollen. Für DATEV und seine Mitglieder gilt dies in besonderem Maße: Wer Mandanten begleitet, Unternehmen gestaltet und Vertrauen schafft, lebt diese Prinzipien Tag für Tag. Gaucks Worte sind damit nicht nur Mahnung, sondern zugleich auch Bestätigung und Ermutigung, die Werte von Freiheit, Verantwortung und Gemeinsinn in Beratung und Gesellschaft weiterzutragen.
Dr. Joachim Gauck
hat die größte Disruption der jüngeren deutschen Geschichte als Mitinitiator des Widerstandes gegen die SED-Diktatur mitgeprägt. Er war Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen und Bundespräsident. Auf dem DATEV-Kongress am 3. Juni 2025 in Nürnberg machte Gauck klar, wie in Umwälzungen Gewissheit verloren geht – und wie es gelingen kann, auch in Zukunft Freiheiten zu bewahren und die Menschen mitzunehmen.