Eine bestimmte Form der Gewährung von rechtlichem Gehör ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Manche Gesetze wie etwa § 29 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), § 147 Strafprozessordnung (StPO) oder § 25 Sozialgesetzbuch X (SGB X) sehen ausdrücklich ein gesetzlich vorgeschriebenes Akteneinsichtsrecht vor. Die Abgabenordnung (AO) hingegen enthält keine gesetzliche Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht bestünde. Ein solches Einsichtsrecht ist weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO abzuleiten. Das wesentliche Argument gegen die Gewährung des Akteneinsichtsrechts ist der Drittschutz und somit das Steuergeheimnis nach § 30 AO.
Besteuerungsverfahren
Allerdings steht dem Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter während des Besteuerungsverfahrens ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Finanzbehörde zu, weil diese nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht daran gehindert ist, in Einzelfällen Akteneinsicht zu gewähren (BFH, Urteil v. 23.2.2010 - VII R 19/09, BFHE 228, 139, BStBl II 2010, 729, Rz. 11). Derartige Fälle, in denen nach pflichtgemäßer Ermessenentscheidung die Akteneinsicht gewährt wird, sind in der Praxis aber die Ausnahme, da sich ein solches berechtigtes Interesse auf Auskunft nur in absoluten Extremfällen ergeben kann, etwa bei Vernichtung der Steuerakten durch Brand oder sonstigem Verlust der Akten. Auch bei einem Beraterwechsel oder Erbfall kann ein berechtigtes Interesse bejaht werden, wenn dem Steuerpflichtigen ohne die Akten eine Abgabe der Steuererklärung faktisch unmöglich ist. In solchen Fällen sollte man zuerst das Gespräch mit der Finanzverwaltung suchen, bevor ein Antrag auf Akteneinsicht mit der Möglichkeit einer Eskalation im Falle der Ablehnung gestellt werden muss.
Zu beachten ist, dass die Ablehnung oder Gewährung von Akteneinsicht ein Verwaltungsakt ist, so dass es vor Erhebung der Klage auf Gewährung von Akteneinsicht eines Einspruchsverfahrens bedarf (BFH, Urteil v. 23.2.2010- VII R 19/09, 2010, 729). Trotzdem ist es ratsam, Anträge auf Akteneinsicht bei den Finanzbehörden zu stellen, da diese im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung über die Anträge entscheiden müssen (BFH, Beschluss v. 05.12.2016 - VI B 37/16, BFH/NV 2017,435). Zu beachten ist jedoch, dass nach Eintritt der Bestandskraft einer Steuerfestsetzung oder bei Verfolgung steuerverfahrensfremder Zwecke kein Anspruch mehr auf ermessenfehlerfreie Entscheidung über den Antrag auf Akteneinsicht besteht (zuletzt BFH, Urteil v. 7.5.2024 – IX R 21/22). Wird ein derartiger Antrag aber mit der pauschalen Begründung zurückgewiesen, dass ein Anspruch auf Akteneinsicht nach der AO schlicht nicht existiere, stellt dies einen sogenannten Ermessensnichtgebrauch dar, weil der ablehnenden Entscheidung dann gar kein ausgeübtes Ermessen der Behörde zugrunde lag.
Datenschutzrechtliche Aspekte
Art. 15 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gewährt betroffenen Personen ein Auskunftsrecht. Gemäß Art. 15 Abs. 1 DSGVO besteht ein Anspruch darauf, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, ob personenbezogene Daten der betroffenen Person verarbeitet werden. Ist dies der Fall, hat man ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und auf die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis h DSGVO näher bezeichneten Informationen. Fraglich ist, ob daraus ein Anspruch auf Akteneinsicht im Besteuerungsverfahren abgeleitet werden kann. Denn die DSGVO dient unmittelbar nur dem Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, und insbesondere dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 1 Abs. 2 DSGVO).
Nach mehreren aktuellen BFH-Entscheidungen sieht die DSGVO keinen Anspruch auf Akteneinsicht vor (BFH, Urteil v. 20.9.2024 – IX R 24/23 Rz. 12 und BFH, Urteil v. 12.11.2024 – IX R 20/22). Vielmehr ergibt sich aus Art. 15 DSGVO lediglich ein Auskunftsanspruch gegenüber dem für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten Verantwortlichen (BFH, Urteil v. 20.9.2024 – IX R 24/23 Rz. 12). Nur bei Unerlässlichkeit besteht nach Art. 15 Abs. 3 Satz 1 DSVGO ein Anspruch darauf, eine Kopie von Auszügen aus Dokumenten oder Datenbanken beziehungsweise sogar ganze Dokumente zu erhalten (BFH, Urteil v. 12.3.2024 - IX R 35/21, BStBl II 2024, 682, Rz. 28). Unerlässlichkeit bedeutet, dass der Antragsteller auf die Dokumente so stark angewiesen ist, dass ihm sonst als betroffener Person die wirksame Ausübung der ihm durch die DSGVO verliehenen Rechte erschwert und damit unmöglich wird. Hierbei handelt es sich aber um Ausnahmefälle.
Festzuhalten ist also, dass Art. 15 DSGVO rechtlich mit einem allgemeinen Akteneinsichtsrecht nicht zu vergleichen ist. Diese Vorschrift ermöglicht lediglich einen (punktuellen) Auskunftsanspruch zu den verarbeiteten personenbezogenen Daten des Steuerpflichtigen [Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg, Urteil v. 26.7.2021 – 10 K 3159/20, EFG 2021, 1777).
Einspruchsverfahren
Im Einspruchsverfahren hat der Steuerpflichtige ebenfalls keinen Anspruch auf Akteneinsicht. Es besteht lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Finanzbehörde (BFH, Beschluss v. 28.5.2003 – VII B 119/01). Im Vergleich zum Besteuerungsverfahren ergeben sich daher keine wesentlichen Unterschiede. Lediglich § 364 AO gewährt dem Steuerpflichtigen ein zwingendes Antragsrecht, eine umfassende Offenlegung der Unterlagen zu verlangen, die der Besteuerung im angefochtenen Steuerbescheid zugrunde liegen.
Gemäß § 364 AO müssen alle Besteuerungsunterlagen offengelegt werden, die geeignet sind, das Ergebnis des Einspruchsführers zu beeinflussen, wie etwa Beweismittel und Beweisergebnisse, Bewertungs- und Schätzungsunterlagen sowie Berechnungsgrundlagen (FG Düsseldorf, Beschluss v. 19.3.2007 - 16 V 4828/06 A(H)(L), EFG 2007, 1053). Aus den offengelegten Unterlagen muss die Besteuerung nachvollziehbar ersichtlich zu sein. Es besteht hier kein Ermessen der Finanzbehörde.
Wichtig ist, zu differenzieren, dass § 364 AO kein eigenständiges Akteneinsichtsrecht, sondern lediglich die Offenlegung der Besteuerungsunterlagen gewährt. Die Offenlegung der Besteuerungsunterlagen nach § 364 AO ist somit „weniger“ als das Recht auf Akteneinsicht. Sofern die Finanzbehörde bei einem Antrag nach § 364 AO nicht alle Besteuerungsunterlagen offenlegt, kann der Steuerpflichtige nach § 361 AO einen Einspruch auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids beantragen (BFH, Beschluss v. 15.6. 2021 -VII B 18/21 (AdV), BFH/NV 2021,1331; FG Saarland, Beschluss v. 23.3.2020 – 2 V 1042/20; FG Düsseldorf, Beschluss v. 19.3.2007 - 16 V 4828/06 A(H)(L), EFG 2007, 1053). In der Praxis wird von diesem Rechtsweg allerdings kaum Gebrauch gemacht.
Finanzgerichtsverfahren
In § 78 Finanzgerichtsordnung (FGO) ist für das finanzgerichtliche Verfahren ein ausdrückliches Recht auf Akteneinsicht geregelt. Gemeint sind alle Akten, die dem Gericht vorliegen, also vor allem die Steuerakten der Finanzbehörde, aber auch die Gerichtsakte selbst. In der Regel legen die Finanzbehörden gemäß § 71 Abs. 2 FGO von sich aus sämtliche den Streitgegenstand betreffende Steuerakten dem Gericht vor. Liegen die Akten aber nicht vor, müssen sie über das Gericht angefordert werden.
Die Steuerakten des Finanzamts sind essenziell für den Steuerpflichtigen, weil sie wichtige Informationen für die Meinungsbildung der Behörde, insbesondere bei der Steuerfestsetzung enthalten. Das Akteneinsichtsrecht erstreckt sich sowohl auf die Akten in Papierform als auch auf die auf elektronischem Wege übermittelten Akten (BFH, Beschluss v. 13.6. 2020 - VIII B 149/19, BFH/NV 2020,1268). In den meisten Fällen aber werden die Steuerakten der Finanzbehörden nach wie vor in Papierform geführt, so dass sie dem Steuerpflichtigen bei entsprechendem Antrag auch in Papierform beim Gericht vorgelegt werden. Auch wenn der Antragsteller die Akten bereits kennt, hat er trotzdem Anspruch auf Akteneinsicht (BFH, Beschluss v. 30.5. 2022 – II B 55/21; BFH, Beschluss v. 15.2.2022 – X B 137/20).
Der Ort der Einsichtnahme ist nach § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO das Gericht. Gemeint sind Diensträume dort. Es ist in der Praxis aber auch üblich, dass die Steuerakten in Papierform an ein Amtsgericht (AG) in der Nähe des Steuerpflichtigen beziehungsweise seines Prozessbevollmächtigten zur Einsicht übermittelt werden. Die AG bieten sich jedenfalls als Ergänzungsorte gut an. Im Regelfall funktionieren diese Ausweichmöglichkeiten problemlos. Nach § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO wird dem FG ein Ermessen eingeräumt (BFH, Beschluss v. 31.10.2008 - V B 29/08, BFH/NV 2009, 194). Die Akteneinsicht kann ausnahmsweise auch außerhalb der Diensträume des FG erfolgen, also auch nicht in einem anderen Gericht, weil dies im Sinne des Gesetzes ebenfalls ein Dienstraum wäre. Gemeint ist damit die Gewährung von Akteneinsicht in Papierform in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten. Dies gilt allerdings lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen.
Eine Übersendung der Papierakte in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten gemäß § 78 Abs.3 Satz 1 FGO erfolgt also eher selten (BFH, Beschluss v. 13.12.2012 – X B 221-222/12, BFH/NV 2013, 571 m.w.N.). Ausnahmen von diesem Grundsatz gab es während der Corona Pandemie, weil die Prozessbevollmächtigten der Steuerpflichtigen zu den Hoch-Risiko-Gruppen gehörten (BFH, Beschluss v. 11.1. 2022 – XI B 89/21).
Ein Ausnahmefall dürfte heute gegeben sein, wenn es sich um sehr umfangreiche Akten handelt. Wo hier allerdings die Grenze liegt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt. Bei Abwägung der Interessen für und gegen die Gewährung von Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten wird das FG davon ausgehen, dass die Einsicht der Akten in den Diensträumen des Gerichts der Regelfall ist; eine Übersendung der Papierakten in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten wird daher weiterhin die Ausnahme bleiben.
Fazit
In Besteuerungs- und Einspruchsverfahren steht dem Steuerpflichtigen kein Anspruch auf Akteneinsicht zu. Er hat lediglich einen Rechtsanspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Finanzbehörde in diesen Verfahrensstadien. In der Praxis nutzt dies dem Steuerpflichtigen kaum etwas. Im Einspruchsverfahren wird ihm nach § 364 AO noch zusätzlich der Rechtsanspruch auf Offenlegung der Besteuerungsunterlagen gewährt, der allerdings mit dem Rechtsanspruch auf Akteneinsicht nicht gleichzusetzen ist.
Erst im Finanzgerichtsverfahren steht dem Steuerpflichtigen das vollständige Recht auf Akteneinsicht zu. Noch nicht endgültig (höchstrichterlich) geklärt ist die Frage, ob die Finanzgerichte den Prozessbevollmächtigten der Steuerpflichtigen die Papierakten der Finanzbehörde in deren Kanzleiräumen zur Akteneinsicht überlassen müssen.
Der Autor
Konstantin Weber
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht. Er ist Inhaber der WEBER | RECHT & STEUERN KANZLEI mit Sitz in Karlsruhe und Tätigkeitschwerpunkten im Steuerstreitrecht, Steuerstrafrecht, Umsatzsteuerrecht, Deutsch-Schweizer Steuerrecht, Wirtschaftsstrafrecht sowie Haftungsrecht.