Die Bundesregierung will Tempo bei Digitalisierung und Bürokratieabbau machen. Doch wie viel Fortschritt steckt wirklich im schwarz-roten Koalitionsvertrag? Die stellvertretende Vorsitzende des Normenkontrollrats, Sabine Kuhlmann, und der Steuerprofessor Christoph Spengel über Daten in Leitz-Ordnern und Excel-Tabellen, über doppelte Arbeitsprozesse und die Frage, was vom Aufbruch bleibt, wenn die Umsetzung stockt.

DATEV magazin: Vor rund vier Monaten haben Union und SPD ihren Koalitionsvertrag beschlossen. Was hat Sie am meisten überrascht?

Sabine Kuhlmann: Wir haben noch nie Themen und Forderungen des Normenkontrollrats in einer derartigen Breite und Tiefe im Koalitionsvertrag wiedergefunden, wie es diesmal der Fall war. Natürlich wissen wir aus der Erfahrung, dass nicht alles, was im Koalitionsvertrag steht, auch umgesetzt wird. Aber das war schon ein ziemlich positiver erster Eindruck.

Christoph Spengel: Ich kann das bestätigen. Das Thema Digitalisierung hat für mich das größte Innovationspotenzial in unserer Gesellschaft. Was mich nicht überrascht hat und was ich sehr sinnvoll finde, ist, dass es nun ein eigenes Ministerium für Digitalisierung gibt.

Den ersten Teil der steuerpolitischen Pläne hat der Gesetzgeber im Frühsommer auf den Weg gebracht, unter anderem die Rückkehr der degressiven Abschreibung. Wird das reichen, um die Investitionen spürbar anzukurbeln und zugleich Prozesse zu vereinfachen?

Christoph Spengel: Wenn ich mir die wesentlichen Maßnahmen des Sofortprogramms ansehe, entdecke ich weder einen Investitionsbooster noch einen Turbo. In meinen Augen werden Mitnahmeeffekte dominieren. Nach Ablauf der degressiven Abschreibung 2028 soll der Körperschaftsteuersatz schrittweise von 15 auf 10 Prozent reduziert werden. Das wird verpuffen. Warum macht man es nicht gleich 2028? Das größte Defizit sehe ich aber in der Digitalisierung. Das betrifft nahezu alle Prozesse des öffentlichen Lebens. Die sind zu langwierig, zu kompliziert, und keiner weiß irgendetwas, weil das alles in Leitz-Ordnern schlummert.

Sabine Kuhlmann: In der Digitalisierung, der Automatisierung und KI-unterstützten Abwicklung von Verwaltungsverfahren liegt in der Tat ein erhebliches Innovations-, Beschleunigungs- und Vereinfachungspotenzial. Vereinfachung für Bürger und Unternehmen, aber auch Entlastung für die Verwaltung. Momentan sind wir davon aber weit entfernt. Wir haben uns in einer Studie an der Universität Potsdam den Digitalisierungsstand in den Finanzämtern angeschaut: Obwohl wir mit der Einkommensteuererklärung schon einen Bereich haben, der relativ weit fortgeschritten ist im Vergleich zu anderen, liegt noch vieles im Argen. Die Automatisierung ist noch nicht so vorangekommen, wie man es sich vorstellen kann und wie es technisch möglich wäre. Die Beschäftigten in den Finanzämtern sind mit dem Stand der Digitalisierung unzufrieden, weil vieles nicht richtig funktioniert, weil die Verfahren nicht aufeinander abgestimmt sind und weil zusätzliche Aufgaben entstehen, beispielsweise durch Scannen. Dadurch entstehen teilweise zusätzliche Belastungen. Da müssen wir wirklich nachlegen und beschleunigen, auch in Richtung „digital only“, das heißt, Schritt für Schritt eine Pflicht zur digitalen Einreichung der Unterlagen etablieren. Hier ist auch der Gesetzgeber gefragt, der im Vorfeld bereits darauf achten muss, dass die Prozesse digital vollzogen werden können. Das bedeutet, dass sich Gesetzgebungsverfahren ändern müssen. Wir müssen mehr auf Fragen von Digital- und Praxistauglichkeit achten und nicht nur darauf, ob die Regelungen rechtlich korrekt und vor Gericht nicht anfechtbar sind.

Jetzt haben Sie eingangs für das neue Digital­ministerium Vorschusslorbeeren verteilt. Inwieweit kann das Ministerium mit Blick auf die föderalen Strukturen Einfluss nehmen?

Sabine Kuhlmann: Allein dadurch, dass man ein Türschild wechselt und „Digitalministerium“ draufschreibt, ändert sich natürlich nichts. Es muss mit entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet sein. Wir vom Normenkontrollrat sind noch skeptisch, ob das bei der Staatsmodernisierung funktionieren kann – also auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Der Fokus scheint sehr stark auf der Bundesebene zu liegen: zersplitterte Behörden zusammenführen, Kompetenzen bündeln und so weiter. Bei der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern – und das betrifft dann auch die Verwaltungsdigitalisierung – erscheint mir vieles noch nicht sehr konkret. Aber genau dort muss der Fokus liegen. Wir haben es beim Onlinezugangsgesetz (OZG) und dessen Überarbeitung erlebt: Das ist ein Mehrebenenprojekt, das läuft nicht allein durch den Bund. Wenn einerseits Länder und Kommunen nicht an Bord geholt werden und andererseits der Bund einseitig die Standards setzt, besteht die Gefahr, dass sich die negativen Erfahrungen wie beim OZG wiederholen.

Ein schlechter analoger Prozess wird durch Digitalisierung nicht besser. Müsste man nicht zuerst die Zusammenarbeit auf allen Ebenen verbessern, bevor man digitalisiert?

Sabine Kuhlmann: Hier braucht es eine Gleichzeitigkeit. In der Tat ergibt die Digitalisierung eines schlechten analogen Prozesses einen schlechten digitalen Prozess. Das kann man sich sparen. Dann kommt es zu zusätzlichen Belastungen, alle sind unzufrieden oder die Services werden nicht genutzt, wie bei der Onlinezulassung i-Kfz. Die ist jetzt zwar bundesweit möglich, aber die Nutzungsquote liegt bei unter drei Prozent. Es ist für viele Bürgerinnen und Bürger weniger zeitaufwendig, in die Behörde zu gehen, als den digitalen Prozess anzuwenden. Daher müssen Prozessoptimierung und Digitalisierung parallel laufen. Das gerät oft aus dem Blick, und dann haben wir das Problem der geringen Nutzungsquoten bei neuen digitalen Prozessen.

Welche Voraussetzungen müssten denn neben den technischen noch erfüllt sein, damit Digitalisierung und Staatsmodernisierung gelingen?

Christoph Spengel: Wir müssen den Blick auch auf die internen Prozesse richten und die Systeme dort vereinheitlichen. So kann etwa die Staatsanwaltschaft mit dem Landeskriminalamt keine Videokonferenz führen, weil die Systeme unterschiedlich sind. Darüber hinaus brauchen wir eine einheitliche Datenstruktur und eine zentrale Verfügbarkeit von Daten. Ein Beispiel: Seit dem vergangenen Jahr gilt die Richtlinie zum EU-weiten Datenaustausch für die Betreiber elektronischer Marktplätze wie Airbnb oder eBay. Die müssen ihre Transaktionsdaten an das Bundeszentralamt für Steuern melden. Der Datenabgleich zwischen Bund und Ländern findet aber beim Statistischen Bundesamt statt. Die gemeldeten Daten sind beim Bundeszentralamt für Steuern im Moment noch in Excel-Listen vermerkt. Die Länder wiederum melden ihre Einkommensteuerdaten an das Statistische Bundesamt mit Ablauf der Festsetzungsverjährung. Digitalisierung heißt für mich, auch Systeme und vor allem Daten in einheitlichen Formaten darzustellen. Und das ist ein langer Weg. Aber dann sind die Prozesse effizienter, und das Personal kann dort eingesetzt werden, wo es gebraucht wird. Was wiederum den Menschen das Gefühl gibt, dass sie weiterhin gebraucht werden und ihre Arbeit wertvoller wird.

Sabine Kuhlmann: Um diese internen Prozesse bis zum Backend zu digitalisieren, müssen digitaltaugliche Regelungen erlassen werden. Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Die Registermodernisierung ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, um die interne Verwaltungsdigitalisierung voranzutreiben. Über einen automatisierten Registerabruf können die Daten verfahrensübergreifend in verschiedenen Behörden verwendet werden, ohne dass der Bürger sie mehrmals eingeben muss.

Laut Koalitionsvertrag soll der Nationale Normenkontrollrat ins Kanzleramt zurückverlagert werden; nun hat man sich dafür entschieden den Rat ans Digitalministerium anzudocken. Die bessere oder schlechtere Wahl?

Sabine Kuhlmann: Eine Verankerung im Kanzleramt hätte den Vorteil gehabt, dass man durchschlagkräftiger und durchsetzungsfähiger auch gegenüber den Ressorts ist. Andererseits ist das Digitalministerium natürlich fachlich dasjenige, das unsere Themen bündelt. Insofern ist es inhaltlich richtig, dass wir jetzt dort angesiedelt sind. Ich möchte aber betonen, dass das Ministerium uns gegenüber keine Weisungsbefugnis hat. Wir sind ein unabhängiges Gremium.

Wenn ich Sie auf eine Zeitreise zum Ende dieser Legislaturperiode schicke und Sie von dort aus zurückblicken: Woran würden Sie messen, ob die Koalition bei ihren Reformenversprechen geliefert hat?

Christoph Spengel: Man fängt mit einem bedeutsamen Prozess an, der durch alle Strukturen geht. Wenn es gelingt, diesen über alle Bereiche föderal zu digitalisieren, wenn er funktioniert, die Menschen entlastet und auch von ihnen akzeptiert wird, dann haben wir einen Erfolg.

Sabine Kuhlmann: Wenn das Stöhnen über eine nicht funktionierende Digitalisierung weiterginge und die Unzufriedenheit zunähme, würde ich sagen: Da ist etwas schiefgelaufen. Wenn wir wichtige Prozesse, die auch als Massenverfahren funktionieren, gut digitalisieren und automatisieren, hat die Regierung etwas richtig gemacht. Aber es muss sich auch in der Wahrnehmung etwas ändern. Es reicht nicht, dass der Normenkontrollrat statistisch Erfolge messen kann. Es muss bei den Bürgerinnen und Bürgern und der öffentlichen Verwaltung spürbar etwas ankommen.