„Bevor sich die Frage nach der Software stellt, müssen sich Kanzleien mit den Prozessen ihrer Mandanten auseinandersetzen.“
– André Schulte, DATEV
Ein neuer Blick auf die Zusammenarbeit hilft, Potenziale zu heben: Was passiert eigentlich, bevor eine Rechnung beim Mandanten eingeht? Wie werden Ausgangsrechnungen erstellt? Und wo entstehen Daten, die später die Buchhaltung füttern sollen? Denn ein sauberer Datenfluss beginnt nicht in der Kanzlei, sondern im Unternehmen.
Vorgelagerte Prozesse beim Mandanten
„Viele Kanzleien denken zu sehr aus ihrer Perspektive“, sagt Jochen Stikel. „Sie schauen auf das, was in der Kanzlei passiert. Aber nicht darauf, wie der Mandant dorthin kommt.“ Dabei liegt der Schlüssel zur besseren Zusammenarbeit genau dort – in den Unternehmensprozessen der Mandanten.
Jochen Stikel und André Schulte arbeiten bei DATEV daran, diese Prozesse greifbarer zu machen. Ihre Erfahrung: Erst wenn Steuerberaterinnen und Steuerberater verstehen, wie ein Mandant arbeitet – vom ersten Kundenkontakt bis zur Rechnung – können digitale Lösungen wirklich sinnvoll eingesetzt werden.
Wie Kanzleien Unternehmensprozesse wirklich verstehen – in vier Schritten
Schritt 1: Sich in die Rolle des Mandanten versetzen
Viele Kanzleien haben ein gutes Bauchgefühl für ihre Mandanten – aber kein vollständiges Bild. Genau da setzt das Unternehmerhaus an, ein visuelles Modell zur strukturierten Analyse betrieblicher Abläufe (siehe Abbildung). Es bildet zentrale Unternehmensbereiche ab: Einkauf, Produktion, Buchführung, Personal, Controlling, IT, Digitalisierung und mehr.
Wir sprechen dabei ganz bewusst nicht über Software“, sagt Jochen Stikel. „Es geht rein um Prozesse – und darum, sie zu verstehen.“ Das Haus hilft, sich in die Rollen der Mandanten hineinzuversetzen:
- Wie laufen Einkaufs- und Verkaufsprozesse ab?
- Welche Daten fließen und wohin?
- Wie sieht die bestehende IT-Landschaft aus?
- Welche Schnittstellen bestehen bereits und wo fehlen sie noch?
- Wie weit ist der Mandant mit der Digitalisierung und welche Potenziale bleiben ungenutzt?
„Wir haben erlebt, wie Mitarbeitende plötzlich sagten: Das habe ich ja noch nie bedacht!“, erzählt André Schulte. „Das Haus macht Prozesse greifbar und Gesprächsanlässe sichtbar.“
In der neo Kanzlei von Eugen Müller war genau dieser strukturierte Blick der Einstieg in eine neue Form der Zusammenarbeit: weg von reiner Datenverarbeitung, hin zur echten Prozessberatung. „Viele Mandanten machen Dinge, weil sie immer so gemacht wurden. Wenn man aber einmal konsequent fragt, warum – dann kommt man auf echte Verbesserungen. Für beide Seiten.“
Schritt 2: Zusammenarbeit vor der Software klären
Ein Mandant von Eugen Müller hatte bereits ein Dokumentenmanagementsystem bestellt – von einem Anbieter ohne Verbindung zu DATEV. Warum? Weil niemand vorher gefragt hatte, wie die Prozesse im Unternehmen tatsächlich ablaufen.
„Die dachten: E-Rechnung gleich DMS“, erinnert sich Müller. „Dabei war das eigentliche Problem ganz woanders.“ Solche Fälle sind kein Einzelfall. Immer wieder werden Lösungen eingeführt, ohne die Anforderungen wirklich zu kennen. Das Resultat: Medienbrüche, Zusatzaufwand, Enttäuschung – und verlorenes Vertrauen.
Die Lehre: Die passende Lösung steht am Ende – nicht am Anfang. Zuerst müssen Kanzlei und Mandant klären:
- Welche Abläufe bestehen?
- Welche Daten werden wo erzeugt und verarbeitet?
- Welche Systeme sind beteiligt?
- Welche Schnittstellen braucht es?
Erst dann kann eine technologische Entscheidung getroffen werden, die wirklich zur Struktur des Mandanten passt.
Schritt 3: Prozesse gemeinsam gestalten
Verstehen ist der erste Schritt – gestalten der zweite. Denn Prozesse lassen sich verändern. Aber nur, wenn beide Seiten offen dafür sind. Die neo Kanzlei hat sich bewusst die Zeit dafür genommen, alle Mitarbeitenden einmal konsequent in die Rolle der Mandanten schlüpfen zu lassen.
Mithilfe des Unternehmerhauses wurde klar: Viele Probleme in der Zusammenarbeit entstehen nicht durch Technik – sondern durch fehlende Einblicke. „Früher haben wir unsere eigenen Kanzleiprozesse optimiert“, so Müller. „Heute denken wir vom Mandanten her. Das verändert alles.“
Die Kanzlei wurde dadurch nicht nur effizienter. Sondern auch strategischer und für Mandanten relevanter. Denn wer Prozesse wirklich versteht, kann mitgestalten: beim Aufbau eines DMS, bei der Umstellung auf die E-Rechnung oder bei der Auswahl der Systeme.
Schritt 4: Digitalisierung heißt: Prozesse ganzheitlich denken
Einzelmaßnahmen bringen wenig. Wer Digitalisierung nur punktuell einführt, schafft neue Medienbrüche. Müller berichtet von Mandanten, die plötzlich alles einscannen sollten – ohne Workflow-Änderung.
„Das war kein Fortschritt, das war Rückschritt.“ Deshalb die klare Empfehlung: Digitalisierung ist nur dann sinnvoll, wenn sie vollständig durchdacht ist – vom Datenursprung bis zur Auswertung, vom Einkauf bis zur Buchhaltung.
Das bedeutet:
- Keine Parallelprozesse in Kanzlei und Mandantensystem
- Keine halbfertigen Schnittstellen
- Keine unausgesprochenen Erwartungen
Sondern: Klare Abläufe, digitale Übergabepunkte, offene Kommunikation – und ein gemeinsames Verständnis der Prozesse.
Neue Perspektiven – neue Partnerschaften
Wer Unternehmensprozesse versteht, kann anders beraten. Und anders zusammenarbeiten. Statt Fragen zu beantworten, die nie gestellt wurden, können Kanzleien zum strategischen Partner werden. Statt Technik zu erklären, die nicht gebraucht wird, können sie Prozesse gestalten, die wirklich passen.
Oder wie Eugen Müller es sagt: „Wir wollen keine Datendrehscheibe mehr sein. Wir wollen Berater sein – für die Geschäftsmodelle unserer Mandanten.“
Was andere Kanzleien daraus mitnehmen können
- Das Unternehmerhaus als Einstieg nutzen
Setzen Sie sich bewusst mit den vor- und nachgelagerten Prozessen Ihrer Mandanten auseinander – jenseits von Softwarefragen. - Gespräche anders führen
Nicht fragen: „Was brauchen Sie?“ Sondern: „Wie läuft es heute und was funktioniert dabei (nicht)?“ - Prozessfragen standardisieren
Verankern Sie Prozessfragen im Onboarding und in der Mandatsbetreuung: vom Rechnungseingang über Freigaben bis zur Ablage. - Ganzheitlich umstellen oder gar nicht
Vermeiden Sie Insellösungen. Digitalisierung muss für alle Beteiligten funktionieren, sonst entsteht Frust. - Veränderung zulassen – auch intern
Prozessorientierte Zusammenarbeit erfordert neue Rollen, neue Verantwortung und manchmal auch neue Strukturen.