Eigentlich war der Plan richtig gut. Endlich eine Liste mit all den Mandanten zusammenzustellen, die ihre Belegordner immer noch regelmäßig in der Kanzlei vorbeibringen. Endlich ein paar schlüssige Argumente zu entwickeln, warum genau diese Mandanten künftig ihre Unterlagen besser digital senden sollten. Und endlich die letzten ihrer betreuten Fälle von analog auf digital umzustellen. Das würde so vieles einfacher machen, Zeit sparen, die Zusammenarbeit verbessern. Ihre Chefin hatte vor Kurzem im Teammeeting die neue Onboarding-Strecke für DATEV Unternehmen online vorgestellt – eine Schritt-für-Schritt-Anleitung mit Klickpfaden. Lea* war begeistert. Genau so etwas hatte ihr gefehlt. Heute wollte sie loslegen. Sie hatte sich Zeit im Kalender reserviert, das Projekt in den Fokus gerückt. Nachdem es in den vergangenen beiden Wochen immer wieder verdrängt worden war – von Fristen, Rückfragen, Unterbrechungen. Und heute, genau jetzt, ploppt eine E-Mail von einem neuen großen Mandanten auf.Jeder kennt diesen Moment: Der Termin im Kalender steht, der Vorsatz ist gefasst, das Vorhaben ist klar – und dann verschieben wir den Plan doch um eine Stunde, einen Tag, eine Woche und verweisen darauf, dass die Dynamik des Alltags dies notwendig mache. In Kanzleien gerät zwischen Rückfragen, Fristen und Mandantenanrufen das, was langfristig wichtig ist, immer wieder hinter das, was kurzfristig drängt.
Wenn Verschieben zur Gewohnheit wird
Prokrastination, das bewusste oder unbewusste Aufschieben von Vorhaben, ist kein exotisches Randphänomen, sondern ein tief verankertes, universelles Verhalten. „Wenn wir es nicht anders geübt haben, wenn wir keine Selbstkontrolle und Selbstregulation gelernt haben, bevorzugen wir die Dinge, die einfach und angenehm zu erledigen sind“, erklärt Margarita Engberding, Professorin für Psychologie und ehemalige Leiterin der bundesweit ersten Prokrastinationsambulanz an der Universität Münster. Die Forschung bestätigt: Prokrastination tritt besonders dort auf, wo das emotionale Kosten-Nutzen-Verhältnis unausgewogen erscheint – wenn also kurzfristige Entlastung über langfristige Verbesserung gestellt wird. Engberding beschreibt das als einen erlernten Mechanismus, der kurzfristig belohnt, weil der Druck sinkt, langfristig jedoch schadet. Vor allem, wenn das Verschieben zur Gewohnheit wird.Gerade in der Steuerberatung sind die Klassiker des Aufschiebens bekannt: die Umstellung auf neue Tools, das Schaffen klarer digitaler Mandantenprozesse, interne Pilotprojekte, die eigentlich längst hätten laufen sollen. All das sind Aufgaben, die selten mit sofortigem Feedback belohnt werden – und deshalb schnell nach hinten rutschen.Laut DATEV-Digitalisierungsumfrage 2025 nennen 54 Prozent der befragten Kanzleien Zeitmangel im Tagesgeschäft als Hauptgrund dafür, dass strategisch wichtige Digitalisierungsvorhaben nicht umgesetzt werden. Dabei zeigt die Umfrage auch: Die Bereitschaft ist durchaus vorhanden, aber der Übergang vom Planen zum Handeln bleibt eine Hürde.Margarita Engberding verweist auf das sogenannte Rubikonmodell: Zwischen Entschluss und Umsetzung liegt eine Schwelle, an der viele scheitern – nicht aus mangelndem Willen, sondern weil innere Blockaden überwiegen. Menschen wüssten oft sehr genau, was sie erreichen wollten; ihnen falle aber das Schaffen einer inneren Struktur und das konkrete Tun schwer.Wer an seinem Schreibtisch sitzt und sich zum dritten Mal am selben Vorhaben vorbeiorganisiert, ist nicht unbedingt unmotiviert. Oft schützt sich das Gehirn schlicht vor Überforderung – oder vor dem eigenen Perfektionsanspruch. „Die Aufgabe wird vermieden, das unangenehme Gefühl verschwindet – und das ist natürlich eine massive Belohnung. Die wird im Gehirn dann abgespeichert“, erklärt Margarita Engberding.Achim Kremulat, früher selbst Steuerberater, heute Kanzleicoach, kennt diese Verhaltensmuster aus der Praxis: „Ich glaube, das ist tatsächlich der Hauptgrund, warum Leute nicht anfangen: Sie haben Angst, etwas falsch zu machen.“ Das sei aber angesichts der rasanten Veränderungsgeschwindigkeit äußerst schwierig: „Da musst du Dinge einfach mal ausprobieren, und dann geht auch mal etwas schief.“Wie neue technologische Entwicklungen den Alltag vieler Menschen von jetzt auf gleich verändern können, zeigen KI-Lösungen wie ChatGPT und Co. Innovationen, die in ihrem enormen Tempo auch Prof. Dr. Armin Grunwald, Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, überrascht haben. Er hält daher eine ausbalancierte Gratwanderung für notwendig: „Potenziale sollten, so schnell es verantwortlich geht, genutzt werden: Nicht alles endlos zerreden, und am Ende passiert nichts.“ Zugleich warnt er vor blinder Technikgläubigkeit.
Sekpsis in Interesse wandeln
Der Reflex, vorschnell alles zu implementieren, sei ebenso gefährlich wie dauerndes Zögern. Beides könne Innovationen entwerten – und Vertrauen zerstören. „Man darf auch die Sorgen vor dem Verlust an Autonomie nicht unterschätzen“, mahnt der Professor für Technikphilosophie: „Dass Menschen nicht nur die Versprechen von Digitalisierung und KI erleben, sondern Abhängigkeit und fehlende Kontrolle.“Die Herausforderung bestehe darin, diese Mechanismen zu erkennen – und aufzulösen. Achim Kremulat rät Kanzleiinhabern daher, nicht einsame Entscheidungen zu treffen, sondern für geteilte Erfahrungen zu sorgen. Das bedeute etwa, sich mit genau dem Mitarbeiter zusammenzusetzen, der bislang den größten Widerstand gezeigt, die größten Sorgen geäußert habe. „Dann sollte man sagen: ‚Wir probieren es jetzt einfach mal anhand eines Falles aus, und ich verspreche dir, wenn es nicht gut läuft, musst du es nicht weitermachen.‘ Das ist eine faire Chance und eine spielerische Form der Veränderung.“ Sobald einzelne Mitarbeiter erste Erfolgserlebnisse sammeln – etwa bei der Arbeit mit einem neuen Tool, einer digitalisierten Lohnabrechnung oder einer veränderten Mandantenkommunikation – entsteht Bewegung im Team. Skepsis wandelt sich in Interesse, Interesse in Beteiligung. „Die Leute müssen die eigene Erfahrung machen, dass es wirklich etwas bringt. Dann läuft’s“, sagt Kremulat.Die DATEV-Digitalisierungsumfrage 2025 zeigt, dass hier Luft nach oben ist: 54 Prozent der befragten Kanzleien schaufeln ihren Mitarbeitern Zeit frei, in der sie digitale Projekte umsetzen können. Von den kleineren Kanzleien kann dies nur ein gutes Drittel leisten. Gerade in größeren Kanzleien zeigt sich: Je stärker Mitarbeiter an Entscheidungen beteiligt sind, desto höher ist die Umsetzungsgeschwindigkeit. Dazu kommt, dass es gerade bei neuen KI-Lösungen zusätzlich darum geht, weitere Fähigkeiten zu stärken, wie Technikphilosoph Grunwald beschreibt: „Unsere Urteilskraft, den Überblick zu behalten, sich in einer Vielzahl von gegenteiligen Meinungen zurechtzufinden, ist wichtiger denn je. Wir sollten alle Potenziale der KI nutzen – und dabei klug selbst denken, damit wir sie gut nutzen können.“Der Weg in neue Routinen ist selten kurz und nie friktionsfrei. In Kanzleien ist dieser lange und schwierige Prozess besonders deutlich zu beobachten. Wer Tools wie DATEV Unternehmen online, DATEV Meine Steuern oder DATEV Belegfreigabe nutzt, spart langfristig Zeit – muss aber zunächst Zeit investieren: in Einarbeitung, Umstellung, Erklärung. Das erzeugt Unsicherheit, besonders bei denen, die sich im Kanzleialltag ohnehin an der Grenze zur Überlastung sehen. Armin Grunwald warnt noch vor größeren Folgen: „Eigentlich soll Technik die Autonomie des Menschen vermehren. Wir merken aber, wie wir auch in immer mehr Abhängigkeiten geraten – also das Gegenteil von Autonomie.“ Zu zeigen, wie digitale Arbeit nicht entmündigen, sondern entlasten kann: Dafür braucht es Zeit und Raum – eben das, was im Alltag oft untergeht.
Veränderung ist eine Haltung
Die Digitalisierung verändert auch die Beziehung zum Mandanten. Wo früher das persönliche Gespräch über Belege, Fristen und Rückfragen stattfand, übernehmen heute Software, automatisierte Erinnerungen und digitale Prüfpfade diese Funktionen. Das reduziert den Kommunikationsaufwand – und schafft zugleich Distanz. Auch hier gilt: Was technisch logisch ist, muss sozial nicht automatisch als stimmig empfunden werden. Leas Chefin*, Steuerberaterin mit eigener Kanzlei, hat den digitalen Wandel frühzeitig angestoßen. „Wir wollen alle Mandanten auf DATEV Meine Steuern umstellen, damit wir nicht mehr mit Papierordnern arbeiten müssen oder Belege über drei Kanäle bekommen.“ Aber das reiche nicht. „Die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass es sie entlastet – das ist der Kraftakt. Und manchmal zweifelt man, ob man die Energie noch hat.“Denn der digitale Wandel in Kanzleien wird wird oft nur als technisches Projekt gesehen. Neue Lösungen werden eingeführt, Schulungen organisiert, Prozesse dokumentiert. Doch was auf der Oberfläche nach Handlungsbereitschaft aussieht, bleibt häufig ohne Wirkung, weil der entscheidende Faktor fehlt: eine Haltung, die Veränderung nicht nur zulässt, sondern ermöglicht. „Ich sage nicht: ‚Mach das so.‘ Ich kitzle die Lösung mit Fragen heraus. So merken sie, dass Veränderung nicht wehtut. Im Gegenteil: Wenn es funktioniert, spart es mir Zeit und bringt sogar Spaß. Aber die Erfahrung muss jeder selbst machen“, erläutert Achim Kremulat. Und Margarita Engberding erklärt: „Es geht nicht darum zu sagen: ,Mach mal schneller!‘ Sondern: ,Wie kriegen wir es hin, dass du dich an das Thema wieder herantraust?‘“ Wer Menschen in Veränderungsprozesse einbindet, sollte nicht mit Zielvorgaben starten, sondern mit dem Verstehen ihrer Hemmnisse. Enabling bedeutet, diese Bedürfnisse ernst zu nehmen – und sie in produktive Bahnen zu lenken.
Unspektakulärer Impuls, große Wirkung
Nicht jede Veränderung beginnt mit einem Projektplan. Oft sind es gerade die unspektakulären Impulse, die langfristig Wirkung entfalten: ein erfolgreich umgestellter Mandant, eine vereinfachte interne Abstimmung, ein neu eingeführter digitaler Workflow – ohne große Ansage, ohne Präsentationsfolie. „Es ist wichtig, diese eine Aufgabe zu definieren und in Schritte aufzuteilen. Kleine Schritte sind immer viel erfolgversprechender als ein großes Projekt“, beschreibt Margarita Engberding das Phänomen des Mikro-Commitments.Lea bleibt diesmal im Fokus. Sie schließt ihr E-Mail-Programm, nimmt sich zehn Minuten, öffnet die Liste. Trägt drei Mandate ein, bei denen sie die Umstellung auf digitale Belege vorbereiten will. Dann ruft sie den ersten Mandanten an, erklärt, wie alles ablaufen könnte. Und schickt im Anschluss den Link zur Onboarding-Strecke für DATEV Unternehmen online.Solche Momente taugen selten als Aushängeschild. Aber sie verändern etwas – still, nachhaltig, fast beiläufig. Sie beenden das Aufschieben, markieren den Unterschied zwischen Wissen und Tun. Veränderung hat kein Startsignal. Sie beginnt dort, wo jemand aufhört, auf das perfekte Zeitfenster zu warten – und stattdessen tut, was möglich ist. Der Moment, in dem ein Mitarbeiter beschließt, ein neues Tool zu öffnen. Die Stunde, in der eine Kanzlei eine längst überfällige Umstellung nicht länger verschiebt. Oder das Gespräch, in dem eine Führungskraft sich die Zeit nimmt zu fragen: „Was brauchst du, um loszulegen?“Lea hat an diesem Nachmittag drei Mandanten angerufen. Nicht zehn, nicht 20. Sie hat nicht die komplette Kanzleistruktur überarbeitet, keine Roadmap geschrieben, keinen Workshop konzipiert. Aber sie hat begonnen. Und etwas verändert – nicht nur im Prozess, sondern in ihrer Haltung. Der zweite Anruf fiel ihr schon leichter. Beim dritten war sie überrascht, wie positiv die Reaktion ausfiel. „Wenn das wirklich einfacher ist“, hat der Mandant gesagt, „dann machen wir das so.“ Kein Widerstand. Keine Ausrede. Nur ein Satz – und ein gemeinsamer erster Schritt.
Prof. Dr. Armin Grunwald erklärt, warum Technikfolgenabschätzung Zeit braucht: "Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Daten“