Wenn sich eine bahnbrechende Technologie ausbreitet, gibt es immer Momente, in denen sich zeigt, dass nichts mehr sein wird wie früher. Bei der künstlichen Intelligenz (KI) geschah das am 10. März 2016. An diesem Tag spielt der Go-Profi Lee Sedol in Seoul gegen Googles Computerprogramm AlphaGo. Als die Software Zug 37 ausführen lässt, geht ein Raunen durch den Saal. Der vielfache Meister, der als stärkster Go-Spieler der Welt gilt, stutzt. Ein Lächeln huscht ihm durchs Gesicht. Er habe immer gedacht, AlphaGo berechne nur Wahrscheinlichkeiten, wird er später sagen. „Aber dieser Zug war wirklich kreativ und wunderschön.“ Der Koreaner verliert vier von fünf Partien.
Das Brettspiel Go ist viel komplexer als Schach. Es gibt mehr mögliche Kombinationen als Atome im Universum. Der Sieg über den Menschen war ein Meilenstein für die KI. Denn zum ersten Mal sah es aus, als ob eine Software nicht nur rohe Rechenleistung einsetzt, sondern dank ihrer massenhaft gespeicherten Daten intuitiv handelt.
Die Menschheit saugt KI-Erfindungen auf
Der legendäre Wettkampf ist nur ein Beispiel von vielen für den Durchbruch der KI, im Englischen AI (Artificial Intelligence) genannt. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Maschinen, auf digitalen Befehl Arbeiten selbstständig zu erledigen. Sie werten blitzschnell große Datenmengen aus und ahmen den menschlichen Verstand nach, um Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen.
Seit dem denkwürdigen Tag im März 2016 dehnt sich das Einsatzfeld von KI auf immer mehr Bereiche aus. KI kann heute in Sekunden Briefe schreiben oder Fachtexte übersetzen. Sie berechnet, wann eine Maschine voraussichtlich das nächste Mal ausfallen wird und sagt Ernteerträge in der Landwirtschaft voraus. Sie plant den Betrieb von Bäckereien so gut, dass kaum mehr Nachtarbeit anfällt, hilft bei der Entwicklung von Arzneimitteln, erkennt Krankheiten, schreibt Gedichte und malt Bilder.
Technologiefirmen investieren Milliarden in Innovationen rund um KI. Und die Menschheit saugt ihre Erfindungen auf. So wie im November 2022, als ChatGPT auf den Markt kam. In nur fünf Tagen hatte die App der US-Firma OpenAI eine Million Nutzer, nach zwei Monaten waren es schon 100 Millionen. Heute gibt es pro Tag etwa eine Milliarde Abfragen.
Während KI in den ersten Jahren von der Neugier einzelner Nutzer getragen wurde, ist sie mittlerweile im Alltag vieler Firmen angekommen. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom November 2024 ist die Nutzung von KI im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent gestiegen. Damit setzen 20 Prozent der deutschen Unternehmen mit mindestens zehn Beschäftigten die Technologie ein. Bei Firmen ab 250 Mitarbeitern ist es bereits jede zweite. In den meisten Fällen nutzen sie KI, um Daten aus großen Textmengen zu extrahieren oder um gesprochene Sprache automatisch aufzuschreiben. Doch es gibt auch zahlreiche Unternehmen, die zögern. Die häufigsten Gründe sind fehlendes Wissen sowie Unklarheit über die möglichen rechtlichen Folgen.
Aus diesem Grund hat die Europäische Union das weltweit erste Regelwerk für KI geschaffen, die Verordnung über künstliche Intelligenz (AI Act). Sie soll Unternehmen Rechtssicherheit verschaffen und Laien helfen, die technischen Anwendungen besser zu durchschauen. Die Bestimmungen des AI Acts ergänzen bestehende Vorschriften wie die Datenschutz-Grundverordnung oder die Produkthaftungsrichtlinie.
Der Berufsstand ist gespalten
Das Regelwerk, das am 1. August 2024 in Kraft trat, teilt die KI-Anwendungen in Risikoklassen ein. Als hochriskant gelten zum Beispiel Anwendungen in der Medizintechnik. Chatbots, Textgeneratoren oder personalisierte Werbung werden hingegen als risikoarm betrachtet (siehe Kasten Seite 15). Ein Ziel der Verordnung: Wer KI-Produkte verkauft, soll die Möglichkeit erhalten, sie zertifizieren zu lassen. Kunden sehen dann sofort, dass die Regeln des AI Acts eingehalten wurden. So soll das Vertrauen in KI wachsen. Die Verordnung muss zum Teil noch in deutsches Recht umgesetzt werden.
Der AI Act wirkt sich auch auf Kanzleien aus, die KI einsetzen. Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Anwälte gehen davon aus, dass die Technologie ihren Arbeitsalltag entscheidend beeinflussen wird. 25 Prozent der in der Studie DATEV Seismograf von 2025 befragten Kanzleien nutzen generative KI regelmäßig, 2024 waren es erst neun Prozent. Etwas mehr als die Hälfte gibt an, sich ein wenig mit generativer KI auszukennen. Weitere 14 Prozent schätzen ihren Wissensstand als gut ein. Dass einige Kanzleien bei künstlicher Intelligenz weit vorn mitspielen, andere dagegen zurückliegen oder den Einsatz der neuen Technologie sogar ablehnen, beobachtet auch Dr. Robert Helbig, der das Thema bei DATEV verantwortet. Auf der einen Seite gebe es Kanzleien, die den Einsatz von KI mit Kräften vorantrieben. Auf der anderen Seite stünden meist kleine Kanzleien, deren Geschäftsmodell bisher gut funktioniert habe. „Sie sehen wenig Notwendigkeit, sich zu verändern.“
Eine riskante Sichtweise. Denn wie viele Technologien wird KI immer effizienter und besser. „Wir beobachten eine exponentielle Zunahme der Möglichkeiten“, sagt Helbig. Die Entwicklung beschleunige sich, und Kanzleien müssten mitziehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. „Sonst riskieren sie womöglich ihre Existenz.“ Schon heute leiste KI einen erheblichen Beitrag, um effizienter zu arbeiten und Kosten zu sparen. Daraus entstehen Vorteile, die auch den Mandanten zugutekommen.
Eine Ansicht, die Alexander Neu bestätigt. Der Wirtschaftsprüfer und Partner der Kanzlei KONLUS in Bergisch Gladbach und Köln beobachtet, wie sich die Bewertung von Kanzleien verändert, je nachdem, ob sie KI nutzen oder nicht. Das mache sich bei Übernahmen bemerkbar. „Früher galt die Faustregel, dass der Preis einer Kanzlei etwa 130 Prozent des Jahresumsatzes beträgt.“ Das gelte auch heute noch – aber nur, wenn die Kanzlei voll digitalisiert sei. „In anderen Fällen fällt der Wert auf null.“ Ein ganzes Lebenswerk kann damit auf dem Spiel stehen.
Nicht nur Zahlen, auch Prozesse prüfen
Die Kanzlei KONLUS hat ihre Prozesse früh automatisiert. Schrittweise kamen dann KI-Anwendungen hinzu. „Unsere Möglichkeiten sind aber noch lange nicht ausgeschöpft“, sagt Neu. Er beobachte, wie sich die KI ständig verbessere und ihre Datenbasis vergrößere. Derzeit vergleicht er ihre Möglichkeiten noch mit einem Assistenten im ersten Berufsjahr, der vor allem Routinearbeiten übernimmt. Anspruchsvollere Aufgaben zeichnen sich jedoch schon ab. Wer ein Unternehmen prüft, muss oft Tausende von Buchungen kontrollieren. „Die dafür nötigen Stichproben kann bereits heute ein spezieller Algorithmus übernehmen“, sagt Neu. Das Tool sucht gezielt Beträge heraus, die Anomalien aufweisen – weil sie zum Beispiel zu hoch sind oder ihre Art erheblich von den bisherigen Buchungen desselben Kontos abweicht. Auf diese Weise lässt sich viel Zeit sparen. „Das gibt uns den Freiraum, unsere Mandanten noch besser zu betreuen.“
Neu erinnert daran, dass die meisten Wirtschaftsprüfer heute nicht mehr nur auf die Zahlen schauen, sondern auch die Prozesse ihrer Kunden und deren IT-Systeme im Auge haben. „Wir prüfen, welche Kontrollen die KI unserer Mandanten bereits ausführt und ob sie zuverlässig arbeitet.“ Eine neue Facette des Berufs, die es früher nicht gab.
Der Einsatz von KI ist hilfreich, befreit aber Berufsträger nicht davon, die Ergebnisse sorgfältig zu prüfen. Für den Steuerberater Wolfgang Fischer von der Kanzlei Juhn Partner trifft das insbesondere auf die Gestaltungsberatung zu, in der es vor allem um die Frage geht, wie sich die Steuerlast eines Unternehmens optimieren lässt. Betrieb aufspalten? Ins Ausland gehen? Eine Holding gründen?
Geeignete KI-Programme, wie sie auch DATEV anbietet, geben zwar Antworten. „Als Berufsträger muss ich aber alles prüfen und einiges selbst nachrecherchieren“, sagt Fischer. Dafür liefert die KI nach wenigen Sekunden eine erste Bewertung. „Früher hätte bei uns ein Assistent einen Großteil dieser Aufgabe übernommen und deutlich mehr Zeit benötigt. Dafür ist der Zeiteinsatz eines Berufsträgers in diesem Prozess wiederum höher als früher.“ Grundsätzlich kann dies dazu führen, dass die Mandanteninformationen viel schneller verschickt werden, was weniger Kosten verursacht. Eine Win-win-Situation für Kanzlei und Mandant.
Fischer ist überzeugt, dass jede zukunftsorientierte Kanzlei KI einsetzen muss. Er hält eine Kettenreaktion für wahrscheinlich: Da immer mehr Kanzleien KI nutzen und damit ihre Kosten senken, müssen andere es auch tun, da sie sonst im Wettbewerb abgehängt werden. Dringend geboten ist ein festes Regelwerk für die KI-Nutzung. Fischer verwendet in seiner Kanzlei eine Präsentation, die den Mitarbeitern sowohl die wirtschaftliche Bedeutung als auch die Einsatzmöglichkeiten der Anwendungen nahebringt. Erklärt werden darin auch die Prompts, die Handlungsanweisungen für den Algorithmus. Jeder, der ChatGPT ausprobiert hat, weiß, wie wichtig es ist, eine schlüssige Logik und die richtigen Begriffe bei der Abfrage zu wählen. Das erhöht die Chance, eine brauchbare Antwort zu bekommen.
Steuergeheimnis hat höchste Priorität
Die Qualität der sprachgesteuerten KI-Anwendungen verbessere sich pausenlos. „Die Zahl der Halluzinationen sinkt“, beobachtet Fischer. Darunter versteht man das Erzeugen von falschen Informationen, die auf den ersten Blick plausibel wirken. Die Arbeit mit ChatGPT ist in seiner Kanzlei aber nur sehr eingeschränkt erlaubt. „Auf keinen Fall dürfen Mandantendaten eingegeben werden.“ Das Steuergeheimnis hat höchste Priorität.
Das sieht auch Hans Bankel von der Nürnberger Rechtsanwaltsgesellschaft G&P so. Zwar empfiehlt die Kanzlei ihren Mitarbeitern ausdrücklich, KI-Tools zu verwenden. „Wenn es aber um einen konkreten Aktensachverhalt geht, sind bei uns nur Lösungen zulässig, die dafür vorgesehen und entsprechend abgesichert sind.“ Zum Beispiel DATEV GPT, eine Anwendung in der DATEV KI-Werkstatt, die strenge Datenschutz- und Sicherheitsstandards garantiert und sich deshalb auch für sensible Fragestellungen eignet. In der DATEV KI-Werkstatt können Mitglieder KI-Prototypen und -Anwendungen testen. Ihr Feedback fließt in deren Weiterentwicklung ein.
So lässt sich das Interesse an KI steigern und die Arbeitszufriedenheit erhöhen. Ein Motiv, das in Zeiten des Fachkräftemangels vielen Kanzleien wichtig ist. Denn junge Talente lassen sich leichter anlocken, wenn die Arbeit digitalisiert ist und KI-Tools zur Verfügung stehen.
G&P nutzt KI zurzeit vor allem für zeitintensive Routinearbeiten, beispielsweise zum Erfassen großer Datenmengen. Bankel berichtet von einem Mandanten, der ihm einmal einen Karton mit rund 20 Leitz-Ordnern übergab mit der Bitte, am nächsten Tag darüber zu sprechen. Mit solchen Situationen kann die Kanzlei umgehen. Zertifizierte Dienstleister digitalisieren die Daten, gesicherte KI-Programme fassen die Inhalte so zusammen, dass sich schnell ein genaues Bild des Falls ergibt. „Die KI liest einfach deutlich schneller als ein Mensch“, sagt Bankel.
Im nächsten Schritt sei aber nach wie vor der Mensch gefordert. Denn für die vielschichtigen Problemlagen einer Wirtschaftskanzlei bietet die KI bisher keine Lösung. Steht etwa eine Firma vor der Insolvenz, kann sie keine rettende Strategie entwerfen. „In solchen Fällen kann es Hunderte von Brandherden geben“, sagt Bankel. Wo muss unbedingt gehandelt werden? Welche Themen lassen sich vertagen? Für solche Fragen reicht die Fähigkeit der KI nicht aus – zumindest noch nicht.
Bis auf Weiteres ist künstliche Intelligenz in Kanzleien also vor allem Ideenschmiede und fleißiger Helfer; künftig wird sie wohl auch komplexere Themen wie Nachfolgeberatung oder Mediation übernehmen können. Diese Entwicklungen regen dazu an, neu über die Rolle des Steuerberaters nachzudenken. Und so wie der kreative Zug von AlphaGo die Grenzen menschlichen Denkens erweiterte, könnte die Integration von KI in die Steuerberatung neue Horizonte eröffnen und das Berufsbild nachhaltig transformieren.
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